Der Professionalisierungsprozess darf nicht in der Sackgasse enden
Die Physiotherapeutin Martina Stöckl promoviert an der Fakultät TUM School of Education in München. Im Interview mit TAL gGmbH (Tansparenz, Analyse, Lösungen) erklärt sie, warum die Akademisierung für eine bessere Patientenversorgung wichtig ist.

[tb] In diesem Beitrag haben wir die wichtigsten Kernaussagen des Interviews noch einmal zusammengefasst. Das komplette Gespräch finden Interessierte hier.
Wenn wir die Professionalisierung der Physiotherapie als Weg sehen, wo stehen wir dann in Deutschland?
Eine Professionalisierung in der Physiotherapie hängt von mehreren Faktoren ab. Eine Grundvoraussetzung ist, dass ein Weg durchgängig ist […]
[…] Einige wenige Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten finden tatsächlich eine Möglichkeit an den verschiedensten Universitäten in Deutschland zu promovieren. Das ist aber eher die Ausnahme und in den meisten Fällen über die sogenannten Bezugswissenschaften möglich. Das bedeutet, dass uns andere Wissenschaften einen Platz an einer Universität anbieten, weil wir selbst keinen haben. Sicher ist, dass diese promovierten Physiotherapeuten mit ihrem “Know-How” hier in Deutschland eine Perspektive brauchen. Das ist die Voraussetzung um einer gelingenden Professionalisierung mit all ihren neuen Berufsperspektiven überhaupt eine realistische Chance geben zu können.
Welche Hindernisse bestehen aktuell für eine Professionalisierung?
Gerade in Deutschland gibt es viele Hindernisse in ganz unterschiedlichen Dimensionen. […]
- Gefahr durch Studiengänge ohne anerkannten Abschluss
- Geringe Aufstiegsmöglichkeiten allgemein
- Diffuse berufliche Identität
- Schlechte Bezahlung
- Wenig Berufsautonomie
- […]
Das sind nur einige, aber wichtige Punkte
Ich lade Sie zu einem Gedankenexperiment ein: Stellen Sie sich vor, wir hätten ein durchlässiges Bildungssystem in der Physiotherapie und einige Physiotherapeuten würden ganz selbstverständlich an Universitäten in Deutschland promovieren. Dann hätten wir Kollegen, die sich nicht nur naturwissenschaftlich sondern auch geisteswissenschaftlich mit der Physiotherapie und ihren vielen Facetten beschäftigen.
Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können dann ihre Erkenntnisse ganz selbstverständlich auf nationaler und internationaler Ebene veröffentlichen. Erstmals kommt es zur Diskussion in der Fachöffentlichkeit von Erkenntnissen und selbstverständlich auch unter anderen Berufsgruppen.
Da dieses Feld des Auftretens in der Physiotherapie in Deutschland komplett fehlt, verlieren sich Diskussionen meist in einer kleinteiligen Betrachtung. Ein Beispiel ist die Einordnung der Therapieberufe ausschließlich als „Handwerk“. Eigentlich ist es aber eine ganz eigene Wissenschaft!
Die Wissenschaft der Physiotherapie ist angesiedelt im Gebiet der Natur- aber auch Geisteswissenschaften!
Krankenkassen fürchten eine Kostenausweitung, Ärztefunktionäre Kompetenzverlust für die Ärzteschaft. Sind diese Sorgen berechtigt?
Wenn unsere Kollegen der Ärzteschaft mit der Anzahl der Patienten ausgelastet sind und gleichzeitig noch Physiopraxen „akute“ Patienten innerhalb von 14 Werktagen keinen freien Termin anbieten können, kommen wir gesamtgesellschaftlich in einer sehr ungünstigen Versorgungssituation. Dann kommen die gleichen Patienten unbehandelt zurück in die mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer überfüllten Arztpraxen. Eine Verschlechterung des allgemeinen Patientenzustandes ist zusätzlich zu erwarten.
Sicher ist, es braucht ein aktuelles Rezept, um die Behandlung beim Physiotherapeuten erneut und erstmals antreten zu können! Wenn es sich hierbei nicht um einen beschriebenen Einzelfall handelt, ist es an der Zeit, solche zukünftigen Tendenzen durch wissenschaftliche Lösungsvorschläge abzufangen!
Selbstverständlich können dann auch genaue Rückschlüsse auf Kosten gezogen werden.
Um auf ihre Frage zurückzukommen: Ich denke die größte Sorge die Ärztefunktionäre, Ärzteschaft und Krankenkassen haben sollten ist, wenn Wissenschaft in den Therapieberufen weiter stagniert!
In welchem Zusammenhang stehen die Akademisierung und Qualitätssicherung für die Patientenversorgung?
Die Akademisierung ist die Grundvoraussetzung zum Aufbau einer wissenschaftlichen Basis. Über die Wissenschaft lassen sich Eckpunkte für eine Sicherung der Versorgungsqualität ermitteln, die letztendlich zu einer hochwertigen Leistung führen. Nur so können PatientInnen, TherapeutInnen und Kostenträger gleichermaßen profitieren. Über die wissenschaftliche Betrachtung können wir herausfinden, welche Aspekte in der Versorgung notwendig sind, um Patientinnen und Patienten effektiv zu behandeln, Therapeutinnen und Therapeuten zu entlasten und nebenbei sogar noch Kosten zu senken. Nicht selten führen Innovationen langfristig zu einer Kostensenkung! Dabei gilt es wichtige Prozesse im Detail zu analysieren, um Zusammenhänge zu verstehen.
Was muss sich ändern?
Es bedarf eines Verständnisses darüber, dass eine Akademisierung in einem durchgängigen Bildungssystem bis hin zur Möglichkeit der Promotion die Grundlage für Wissenschaft, Forschung und Fortschritt ist.
Dies gilt auch im Bereich der Physiotherapie. Der sogenannte Professionalisierungsprozess darf nicht in der Sackgasse mit einem Bachelorabschluss und kaum Mehrwert enden.
Es sollte das Ziel einer „professionalisierten Physiotherapie“ angestrebt werden, die“ beste Version ihrer selbst“.
Die Versorgung der Menschen in Deutschland darf nicht länger an mangelnder Wissenschaft in den Therapieberufen leiden.
Interviewpartnerin
Martina Stöckl ist seit 2007 Physiotherapeutin. Sie absolvierte ihr Studium an der TU München (B. Ed., M. Ed.) im Studiengang berufliche Bildung, Fachrichtung Gesundheits- und Pflegewissenschaften mit Sozialkunde.
Seit 2018 promoviert sie an der TU München – Fakultät TUM School of Education. Martina Stöckl forscht auf dem Gebiet „Ausbildung, Akademisierung und Professionalisierung der Physiotherapie in Deutschland“.
Quelle: TAL gGmbH
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