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09. Mai 2022

Bei Migräne das Kopfkino aktivieren

Im Gespräch mit Hady Daboul

Im neurozentrierten Training kommen bekannte Testverfahren aus der Neurologie zum Einsatz, um kortikale Defizite zu identifizieren und dann ein gezieltes Übungsprogramm zu erstellen. Neben dem Einsatz im Sport findet die Methode auch bei verschiedenen Krankheitsbildern zunehmend Beachtung. Unter anderem können Migränepatienten von neurozentriertem Training profitieren. Die pt fragte nach.

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Ilya Lukichev / shutterstock.com

Wie bist du zum neurozentrierten Training gekommen?

Ich habe in Bonn Medizin studiert. Zu dieser Zeit lernte ich im Verein die Judolehrerin und Physiotherapeutin Romana Kučerová kennen, die mit dem neurozentrierten Training vertraut war und damit arbeitete. Sie hat mir dann bei verschiedenen sportbedingten Problemen mit der Methode sehr schnell helfen können. Mit der schulmedizinischen Perspektive auf meine Beschwerden war ich damals sehr unzufrieden. Ich wollte daraufhin mehr wissen, informierte mich und absolvierte die Kurse.

Was sagst du als Neurowissenschaftler zu den Erklärungsgrundlagen?

Ich habe nach dem Medizinstudium zwei Jahre im Bereich der Hirnforschung gearbeitet. Wenn man sich die neuroanatomischen Grundlagen anschaut, lässt sich das neurozentrierte Training gut verstehen. Aus der Neurologie sind viele Untersuchungen bekannt, man kann die Funktion des Kleinhirns testen, das Gleichgewichtssystem überprüfen et cetera. Die Testergebnisse können wichtige Hinweise auf Defizite geben – und die lassen sich dann auch trainieren.

Ein Beispiel: Über die Bewegungskoordination schaue ich mir die Funktion des Kleinhirns an. Gleichzeitig weiß ich aus der Neuroanatomie, dass spezifische Neurone im Cerebellum auch für das Stoppen von Augensprüngen zuständig sind. Je nach betroffener Seite kann ich dann mit den Patienten genau das üben, auf diesem neuronalen Weg das Kleinhirn zielgerichtet aktivieren und am Ende auch die Koordination der Bewegung positiv beeinflussen. Wir nutzen zur Erklärung des Trainingsansatzes also das Grundlagenwissen aus Neuroanatomie und Hirnforschung.

Du hast dich intensiv mit dem Einsatz der Trainingsmethode bei Migräne beschäftigt – was sind wichtige Prinzipien, die zur Anwendung kommen sollten?

Aus der Forschung ist bekannt, dass das Gehirn bei Migränepatienten in verschiedenen Bereichen überaktiv und überreizt ist (1). Betroffene berichten zum Beispiel oft von auslösenden Reizen, wie helles Licht oder lange Zeit am Bildschirm. Das deutet auf eine Störung der kortikalen Reizverarbeitung hin. Bei visuellen Auslösern ist aufgrund neuroanatomischer Grundlagen eine Überreizung im Bereich des Occipitallappens plausibel. Bildlich gesprochen: es kommt eine kleine Information an und im entsprechenden Gehirnareal entsteht sofort ein Feuerwerk.

Bei Menschen mit Migräne ist es in der Regel wichtig, das visuelle System zu beruhigen. Daher setzen wir bei diesen Patienten häufig verschiedene Augenübungen ein. Ein neues Feld ist die aurikuläre Vagusnervstimulation zur Abwendung von Migräneattacken. Dazu gibt es eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2020 (2), in der neben verschiedenen anderen Einsatzbereichen auch die Effekte der Vagusstimulation am Ohr diskutiert wird. Die Forschenden weisen darauf hin, dass die Wirkmechanismen noch unzureichend verstanden werden. Denkbar ist die Aktivierung des Thalamus durch die Vagusstimulation. Ein anderer Erklärungsansatz ist die Inhibition von nozizeptiven trigeminalen Neuronen. Diese Zusammenhänge machen plausibel, dass die Beeinflussung der Vagusaktivität bei Migräne ein wichtiger Ansatz zu sein scheint. Daher nutzen wir zum Beispiel Atemprotokolle, um die Vagusaktivität zu beeinflussen.

Außerdem ist bekannt, dass Migränepatienten oft Defizite im Bereich der Nackenmuskulatur aufweisen – das betrifft sowohl Ausdauer als auch Kraft. Ein weiterer Aspekt ist die Funktion des Gleichgewichtssystems. Im neurozentrierten Training versuchen wir letztendlich alle an dem Problem beteiligten neuralen Systeme anzusteuern, um so das Risiko für eine Migräneattacke beziehungsweise deren Häufigkeit zu reduzieren.

Aktuell leitest du eine Studie – worum geht es in dem Projekt?

Genau, derzeit läuft eine Studie zum neurozentrierten Training bei Migräne via App. Nach einer gehirnbasierten Profilerstellung bekommen Teilnehmende ein entsprechendes Übungsprogramm, das dreimal täglich durchzuführen ist. Das dauert gar nicht lange, in der Regel pro Training circa drei Minuten. Das sind insgesamt weniger als zehn Minuten jeden Tag, der Aufwand ist also überschaubar. Die Effektivität des Trainings überprüfen wir alle vier Wochen mit einem Fragebogen. Personen mit Migräne können immer noch mitmachen. Der Start ist jederzeit möglich. Die Anmeldung gibt es hier.

Die Fragen stellte Dr. Tanja Boßmann

Hinweis

Hady Daboul ist auch Referent auf dem 1. NEURO INNOVATION DAY am 18. September 2022 in Frankfurt.

Literatur

  1. Akerman S, et al. 2011. Diencephalic and brainstem mechanisms in migraine. Nat. Rev. Neurosci. 12, 10: 570-584
  2. Yap JYY, et al. 2020. Critical review of transcutaneous vagus nerve stimulation: challenges for translation to clinical practice. Front. Neurosci. 14: 284
Hady Daboul

M.D. Hady Daboul

Er ist Neurowissenschaftler und hat während seines Medizin Studium an der Universität Bonn die Z-Health Ausbildung bei Dr. Eric Cobb absolviert. Nach seinem Staatsexamen 2018 forschte er am Leibnitz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund zum Thema Hirnplastizität und arbeitete parallel als Coach im Bereich neurozentriertes Training. 2021 gründete er heyvie. Durch digitale Lösungen soll das neurozentrische Training künftig für jeden zugänglich werden. hady@heyvie.io