Barrierefrei und interdisziplinär
Drei Jahre mussten Fachbesuchende und die Community warten: Aber nun war es wieder soweit. Am 23. Juni öffnete die REHAB Karlsruhe als eine der weltweit bedeutendsten Fachmessen für Rehabilitation, Therapie, Pflege und Inklusion wieder ihre Tore. Seit 1980 ist die REHAB alle zwei Jahre ein gesetzter Termin im Branchenkalender. Rund 350 Ausstellenden aus 18 Ländern waren auf rund 35.000 Quadratmetern in der Messe Karlsruhe vertreten.

Eröffnet wurde die Messe von Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Gabriele Luczak-Schwarz, Erste Bürgermeisterin der Stadt Karlsruhe, Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen und Messechefin Britta Wirtz (v.l.n.r.).
Insgesamt elf sogenannte Marktplätze, von „Mobilität und Alltagshilfen“, „Kinder- und Jugendrehabilitation“ über „Therapie und Praxis“ bis hin zu „Bauen und Wohnen“, „Auto und Verkehr“ oder „Freizeit und Reisen“ bildeten die Messethemen ab. Im Zukunftspavillon stellten junge Start-ups, Forschungseinrichtungen und innovative Unternehmen ihre Ideen, visionären Produkte und smarten Entwicklungen vor.
Für Physiotherapeuten besonders interessant war der in diesem Jahr erstmals durchgeführte Kongress CON.THERA. Unter der Leitung vom Team Lamprecht berichteten namhafte Referentinnen und Referenten über Leitlinien, neue Studienergebnisse und Implikationen für die Praxis. Ziel der Initiatoren ist es, eine Plattform für den fachübergreifenden Austausch zu bieten, sodass sich die Teilnehmenden aus den verschiedenen Professionen in kurzer Zeit auf den neuesten Stand der interdisziplinären Therapie in der Neurorehabilitation bringen können und gleichzeitig die Gelegenheit haben, auf der Messe viele Hilfsmittel persönlich zu erproben und kennen zu lernen.
Schlaganfall
Den Auftakt des Kongresses machte Prof. Dr. med. Thomas Platz von der BDH-Klinik Greifswald. Er sprach über die Rehabilitation der oberen Extremität nach Schlaganfall. Er stellte wichtige Empfehlungen aus der aktuell geltenden AWMF-Leitlinie vor.
Ein wichtiges Statement auf Seite 47 der Leitlinie lautet:
„Eine überlegene Wirksamkeit einer der länger bekannten therapeutischen Schulen gegenüber einer anderen lässt sich für die Armrehabilitation aus der beurteilten Literatur nicht ableiten. Gegenüber anderen spezifischen Therapieformen waren sie – soweit untersucht – hinsichtlich ihrer Wirksamkeit entweder vergleichbar oder unterlegen. Eine Empfehlung für eine derSchulen (Bobath, PNF, „traditionelle Techniken“) kann nicht gegeben werden. (Evidenz 1a, Einschätzung der Effekte: hohe Qualität; Konsens). Die Evidenz zu „hands on“-Therapien (ohne o.g. „Schulen“) mit Gelenksmobilisation, passive Übungen und Dehnen der Flexoren am Arm ist zu gering, um darauf eine Empfehlung zu basieren (Evidenz 1a, Einschätzung der Effekte: niedrige Qualität; Konsens).“
Eingesetzt werde sollten Verfahren wie Schädigungsorientiertes Training (Impairment-oriented training), Aufgabenorientiertes Training und Constraint-Induced Movement Therapy. Zu diesen und vielen weiteren Verfahren gibt es in der Leitlinie jeweils konkrete Empfehlungen.
Hier können Interessierte die Leitlinie komplett einsehen.
In seinem Fazit betont der Professor unter anderem, dass eine „unspezifische“ Behandlung nicht zielführend, sondern eine dezidierte fokussierte Armbehandlung wirksam sei. Zudem stellte er klar, dass im subakuten Stadium Behandlungsintensitäten von mindestens 30 Minuten täglich nötig seien. Er sagt: Schädigungs-orientiertes Training ist individualisierter konventioneller Therapie überlegen.
Wie sich diese Leitlinie in die physiotherapeutische Praxis übertragen lässt, erklärte Sabine Lamprecht in ihrem Vortrag. Sie betont, dass es wichtig sei, zu Beginn distale Funktionen zu fördern, dazu gehören Fingerextension, Greifen und Loslassen. Außerdem sei ein intensives Üben immens wichtig – angepasst an die Fähigkeiten der Betroffenen. Die gemäß Leitlinien empfohlenen Therapieformen sollten kombiniert werden. Die Dosis muss stimmen und kann erhöht werden durch Funktionelle Elektrische Stimulation (FES), Gerätetraining, Eigentraining und Gruppentherapie.
Über Prädiktoren für die Erholung der Armfunktion nach einem Schlaganfall sprach Prof. Dr. med. Joachim Liepert von den Schmieder Kliniken Allensbach. Er stellte unter anderem den PREP-Algorithmus vor, der eine relativ gute frühe Klassifikation erlaubt – die Trefferquote liegt bei 80 Prozent.
Als Kriterien für die Wirksamkeit von Botulinumtoxin Typ A nennt er: mäßige spastische Parese, Kombination mit intensiver Physio- und Ergotherapie sowie ein frühzeitiger Beginn. In seinem Fazit stellte er unter anderem klar, dass der initiale Barthel Index nicht mit Essen, Trinken und Objektmanipulation korreliert und dass Verbesserungen mit Verweildauer und Therapiemenge zusammenhängen.
Wie sich die ReMoS Leitlinie in ein Neurologisches Rehagruppenkonzept implementieren lässt, erklärten Christopher Röck und Manuela Stähle in ihrem Vortrag. Sie berichteten über die Arbeit in der Projektgruppe sowie den mit der Implementierung verbundenen Herausforderungen.
Weitere spannende Themen beschäftigten sich unter anderem mit den Möglichkeiten von Funktionsorthesen sowie der funktionellen Elektrostimulation bei schweren Armparesen.
Aktivierende Therapien für Menschen mit M. Parkinson
Zur Bedeutung der aktivierenden Therapie für Menschen mit M. Parkinson sprach Prof. Dr. med. Andrés Ceballos-Baumann von der Schön-Klinik München-Schwabing. Er betonte, dass die Physiotherapie gemäß der geltenden Leitlinie eine elementare Säule im Therapiemanagement ist. Die entsprechende Leitlinie ist derzeit allerdings abgelaufen und wird im Moment überarbeitet.
Hier gibt es die Leitlinie, die sich gerade in Überarbeitung befindet.
Wie eine Umsetzung der hochintensiven BIG Therapie auch in einer ambulanten Praxis funktionieren kann, stellte Simon Schlick von HSH Lamprecht vor. An vielen Praxisbeispielen zeigte der Physiotherapeut, worauf es bei der Anwendung von von LSVT BIG ankommt.
Multiple Sklerose
Mit der praktischen Umsetzung der Leitlinienempfehlungen für Menschen mit Multipler Sklerose beschäftige sich Sabine Lamprecht.
Und Nadine Patt von den Kliniken Valens diskutierte in ihrem Referat die aktuelle Forschungslage zum hochintensiven Intervalltraining mit dieser Zielgruppe und stellte dar, worauf es bei der Umsetzung ankommt.
Neue Technologien
Ob Neurotechnologie mehr Lebensqualität für Querschnittgelähmte bringt, diskutierte Ute Eck vom Universitätsklinikum Heidelberg. Sie machte deutlich, dass Lokomotionsroboter und Exoskelette Therapeuten entlasten können und ein intensiveres Training ermöglichen. Neuromodulatorische Rückenmarkstimulation kann Therapieeffekte bei Menschen mit vollständiger Schädigung des Rückenmarks zwar weiter steigern, jedoch keine normale Gehfunktion erreichen. Neuroprothesen oder Robotergreifarme können bei individueller Anpassung dabei helfen, den Verlust von Arm- und Handfunktionen bei Verletzungen des Halsmarks zu kompensieren.
Den Sinn und möglichen Unsinn von Schrittzählern und Apps in der Therapie besprach Diplom-Sportwissenschaftler Dr. Alexander Tallner in seinem Vortrag. Damit der Einsatz dieser Möglichkeiten bei Personen mit Einschränkung der Gehfähigkeit sinnvoll ist, sind Voraussetzungen zu definieren. Nur dann lassen sich therapeutisch nutzbare, aussagekräftige Informationen über das Aktivitätsverhalten von Patienten erhalten.
Die hier vorgestellten Themen sind eine Auswahl. Neben den genannten Themenbereichen gab es noch zahlreiche weitere Vorträge zu logopädisch und ergotherapeutische relevanten Themen, dazu gehörten unter anderem Sprechapraxie, chirurgische Therapie der Spastik, perkutane Myofasziotomie und Sekretmanagement bei ALS.
Jetzt schon den Termin für nächstes Jahr notieren: 15.-17. Juni 2023!
Quelle: Messe Karlsruhe